Was läuft schief auf den Intensivstationen?

Sind unsere Intensivstationen überlastet?

Jede dritte Intensivstation lehnt Verletzte regelmäßig ab. Notärzte müssen oft eine Stunde telefonieren, bis sie ein freies Bett finden – häufig dutzende Kilometer entfernt. Das hat fatale, lebensbedrohliche Folgen.

Notärzte schlagen jetzt Alarm:

„In Koblenz beispielsweise kommt es oft vor, dass ein Notarzt lange herumtelefonieren muss, bis er ein freies Krankenhaus findet“, beobachtet Dr. Hermann Reitze, Anästhesist und leitender Oberarzt an der Kemperhof-Klinik in Koblenz.

Notärzte berichten, dass sie bis zu 60 Minuten am Telefon suchen, bis sie endlich ein freies Intensivbett gefunden haben. „Das kann für Patienten sehr gefährlich werden! Etwa wenn das Gehirn nach einem Schlaganfall zu wenig Sauerstoff bekommt oder bei einem Infarkt der Herzmuskel nicht genügend durchblutet wird. Da kommt es auf jede Minute an“, sagt Reitze.

Kennt er einen Todesfall, weil der Notarztwagen zu lange nach einer freien Intensivstation suchen musste? Er schweigt, sagt dann: „Diese Frage möchte ich nicht beantworten.“ Rund 23.000 Intensivbetten gibt es in Deutschland, so viele wie vor zehn Jahren. Nötig aber wären mittlerweile 28.500.

Intensive Betreuung kostet

„Durch den medizinischen Fortschritt können wir heute ältere Menschen operieren, für die es früher keine Therapie gab“, sagt Professor Michael Quintel, Direktor der Abteilung für operative Intensivmedizin an der Universitätsklinik Göttingen. „Je älter aber jemand ist, umso eher braucht er die intensive Betreuung.“ Und die kostet. Rund 1.400 Euro Kosten verursacht ein Intensivbett pro Tag. Ein normales Krankenhausbett dagegen nur etwa 200 Euro.

Diese deutlich höheren Kosten werden nur unzureichend durch Fall-Pauschalen gedeckt, nach denen jeder Patient im Krankenhaus abgerechnet wird. So „bringt“ ein Herzinfarkt der Klinik etwa 2.500 Euro, ein Schlaganfall nur 2.900 Euro. Liegt jemand dann mehrere Tage auf der Intensivstation, wird dies für die Klinik schnell zum Verlustgeschäft.

Kein Wunder, dass Krankenhäuser lieber in Abteilungen wie Orthopädie oder plastische Chirurgie investieren (siehe Rechnung). Geld spielt darüber hinaus bei einem anderen Problem auf Intensivstationen eine Rolle – bei den Ärzten.

Ärzte als Kostenfaktor?

Stefanie Albers arbeitet seit sieben Jahren als Krankenschwester auf der Intensivstation eines Krankenhauses in Bayerisch-Schwaben. Mit erst 28 Jahren hat sie, was vielen Ärzten fehlt: Erfahrung. „Gerade auf der Intensivstation muss man blitzschnell reagieren“, sagt Stefanie Albers.

„Aber die jungen Ärzte sind häufig zu unerfahren und wissen nicht, wie sie die Geräte bedienen müssen und welche Medikamente Patienten brauchen.“ Verantwortlich für den Missstand sind die Verwaltungen der Krankenhäuser, so Stefanie Albers: „Ärzte und Pfleger betrachtet man dort doch nur noch als Kostenfaktor.“

Arbeitspensum an Intensivstationen nimmt zu

Das will Holger Strehlau so nicht stehen lassen. Er ist Präsident der Hessischen Krankenhausgesellschaft und Sprecher der Horst-Schmidt-Kliniken in Wiesbaden. „Wir wissen, dass das Arbeitspensum auf vielen Intensivstationen zugenommen hat“, erklärt Strehlau. „Doch für mehr Stellen fehlt den Kliniken das Geld.“

Er begründet das so: „Die Lohnkosten steigen jährlich, aber die Fallpauschalen nicht.“ Wie lange seine Klinik das durchhält? „Für zwei, drei Jahre haben wir noch Reserven“, schätzt Strehlau. „Bis dahin müssen wir mit Einsparungen wieder schwarze Zahlen schreiben.“ Und danach? „Wenn die Kosten-Schraube weiter so angezogen wird, muss die Politik entscheiden, welche Leistungen das Gesundheitssystem noch übernehmen kann“, glaubt Strehlau.

Düstere Aussichten, die in anderen Ländern schon Praxis sind. In Großbritannien etwa werden Menschen über 80 oft nicht mehr auf Intensivstationen verlegt. Fallpauschalen reichen oft nicht: Mit den Kassen müssen Kranken­häuser nach sogenannten Fallpauschalen abrechnen. Stark vereinfacht bedeutet dies: Für jede Krankheit gibt es eine pauschale Summe, mit der alle Leistungen des Krankenhauses abgedeckt sind.

Einige Beispiele:

  • Herzinfarkt 2.540 Euro
  • Schlaganfall 2.900 Euro
  • Knieprothese 6.900 Euro
  • Plastische Operation ca. 8.200 Euro

Ein Tag Intensivstation verursacht je Patient Kosten in Höhe von etwa 1.400 Euro. Zum Vergleich: Ein Tag auf einer normalen Station kostet nur etwa 200 Euro. Das heißt: Nach zwei Tagen Intensivstation rutscht eine Klinik ins Minus, weil die Kosten die Pauschalen übersteigen.

Quelle: plus Magazin 05/2010

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